Anne, September 2020
Ich glaube, ich habe schon in Yoga-Stunden die Geschichte von Zen-Meister Hakuin erzählt. Jetzt genau in diesem Moment ist sie mir so verständlich und eingängig wie noch nie. Im Buch von Eckhart Tolle, «Eine neue Erde», wird diese Geschichte erzählt und im Zusammenhang erklärt.
Hakuin war ein hochgeachteter und anerkannter Zen-Meister in Japan. Eines Tages wurde eine sehr junge Frau in dem Dorf, in dem er lebte, schwanger. Ihre Eltern waren aufgebracht und wollten wissen, wer der Kindes Vater ist. Sie sagte,Zen Meister Hakuin sei der Kindes Vater, die Eltern gingen wütend zu ihm und erzählten empört, dass ihre Tochter ihnen gestanden habe, er sei der Vater des Kindes. Alles was er darauf entgegnete, war: «Ist das so?» Der Skandal verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt und in den Dörfern rundum. Der Meister verlor seinen guten Ruf, niemand suchte ihn mehr auf. Als das Kind geboren wurde, brachten es die Eltern zu ihm. «Ihr seid der Vater, also kümmert euch um das Kind!» Hakuin — «Ist das so?» — nahm sich liebevoll des Kindes an. Ein Jahr später gestand die Tochter reuevoll ihren Eltern, dass ein Fischer aus dem Nachbardorf der Vater des Kindes sei. Vollkommen zerknirscht gingen die Eltern erneut zu Hakuin um sich zu entschuldigen und um Vergebung zu bitten: «Es tut uns leid, wir sind gekommen, um das Kind abzuholen. Unsere Tochter hat gestanden, dass ihr gar nicht der Vater seid». «Ist das so?» Soll Hakuin gesagt und ihnen den Säugling zurückgegeben haben.
Der Zenmeister reagiert auf Lüge und Wahrheit, auf gute und schlechte Nachrichtengenau gleich. Es lässt den Augenblick in der Form zu, wie er sich gerade zeigt, ob gut oder schlecht. Für ihn zählt nur der gegenwärtige Augenblick, und dieser Augenblick ist, wie er ist. Ich würde sagen, Hakuin ist immer ganz bei sich, die Ereignisse werden nicht personalisiert, er ist niemandes Opfer, die Geschehnisse haben keine Macht über ihn. Nur wer sich gegen das sträubt, was geschieht, ist dem Geschehen ausgeliefert.
Wenn wir das also nur könnten, uns von der Macht der Gedanken und Urteile lösen und einzig und allein im Gegenwärtigen leben, würden wir unsere innere Freiheit bewahren und in unserer Kraft bleiben.
Dies wäre der Tod des Egos, das Ende unserer Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft, wir wären losgelöst von jeder Form — nur «noch» das Sein im Jetzt. Das Sd-Sein ist ein Leben verankert im gegenwärtigen Augenblick, ist Präsenz, Klarheit und Liebe.
Wir verbringen die meiste Zeit unseres Lebens mit dem Abwehren von dem, was gerade ist, eigentlich versuchen wir den gegenwärtigen Moment möglichst schnell hinter uns zu bringen. Oft sehen wir den gegenwärtigen Augenblick auch als Hindernis, das uns davon abhält, glücklich zu sein, sogar als Feind. Doch nur im gegenwärtige Augenblick kannst du entscheiden, wie du in Beziehung mit der Welt trittst.
Welche Beziehung habe ich genau jetzt zum gegenwärtigen Moment? In uns ist oft viel Widerstand in unserer Beziehung zum Moment da, und genau durch diesen Widerstand erscheinen die Dinge in der Welt viel wirklicher, fester und dauerhafter als sie sind. Nichts in dieser Welt ist dauerhaft. Beobachte deine Gedanken und hinterfrage sie, so oft du kannst. Frage dich: «Ist dieser Gedanke wahr?» ( nach K. Byron, «The Work») — Achtung — das sind nur Beispiele: «Die Coronakrise ruiniert mein kleines Yogabusiness, der Virus ist harmloser als dargestellt, ich werde manipuliert»; oder: «Der Virus kann tödlich sein, das System muss geschützt werden, ich weiß, nur eine Impfung kann uns retten»; oder: «Die Schule muss wieder in die Regelmässigkeit zurück kehren, ich werde dies sonst nicht mehr aushalten»; oder: «Ich weiß, eine Wirtschaftskrise wird viel Elend verursachen, derzeit ist alles außer Kontrolle, es werden die falschen Entscheidungen getroffen, es muss dringend alles zurück in die Normalität»; etc. Zur Überprüfung fragst du dich ein zweites Mal: «Kann ich mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass dieser Gedanke wahr ist (und damit kein ihm widersprechender)?»
Unsere Gedanken formen und zementieren die Wirklichkeit, doch wenn du ganz in Gegenwärtigkeit lebst, wirst du sehr schnell erkennen, das sich alles in dieser Welt ständig verändert. Mit dem Hinterfragen wirst du deine Widerstände und die Macht deines Egos erkennen und zeitgleich dich im gegenwärtigen Moment vertiefen können.
Jetzt stellt sich bei dir sicher die Frage, dann bin ich also vollkommen den Ereignissen im meinem Leben ausgeliefert? Nein, im Gegenteil, die Kraft deiner Präsenz ist der Anfang jeder Veränderung. Du wirst erkennen, dass du die Veränderung bist, die du dir für diese Welt wünschst.
In deiner Ganzheit lösen sich dann alle Forderungen an die Welt auf, wie «Gib mir Erfüllung, mach mich glücklich, gib mir Sicherheit, gib mir Kontrolle, …». Lebst du im gegenwärtigen Moment, dann bist du losgelöst von der Idee oder dem Wunsch nach Formen und Konzepten, losgelöst von richtig und falsch, von gut und schlecht.
Ja, wenn es nur so einfach wäre … Eigentlich ist es einfach, man braucht es nur zu üben. Üben, üben und nochmals üben. Sich darin üben, vom oberflächlichen Bewusstsein in das reine Bewusstsein zu vertiefen, in die Stille gehen, sitzen, zuschauen und das sich ständige Verändern erkennen.
Wir leben in einer Zeit, die uns alle verändert und fordert, doch diese Zeit ist die Veränderung für eine «Neue Erde»!
Das Buch «Eine neue Erde» liegt bald wieder im Yogastudio zum Verkauf auf. Es ist ein kleiner Schatz, welcher immer wieder gelesen werden muss, was dir vielleicht jetzt beim Lesen meiner Zeilen schräg vorkommt, wird dir Tolle sehr einfach und eindrücklich erklären.
Ich freue mich, wenn ihr mit auf dem Weg der Veränderung seid.
Die Fülle kehrt in jedem der Momente zu dir zurück, in dem du loslässt und annimmst.